Mein lieber Freund,
verzeih mir, das ich solange nicht die Gelegenheit fand, Dir zu antworten, war ich doch zu beschäftigt den Nachlaß meines Onkels Henry zu ordnen. Dieser verstarb, wie Du sicherlich aus dem Nachruf im New England Medical Examiner erfahren hast, überraschend an einer seltenen, kaum bekannten Form der Hirnblutung und es liegt an mir, nicht nur meine Mutter zu beruhigen, deren geliebter kleiner Bruder so plötzlich und unerwartet starb, sondern auch die Unmengen an anthropologischen und archäologischen Materialien zu sichten, die er mir freundlicherweise vererbt hat, damit der ungeduldige Haifisch von einem Vermieter seine kleine Junggesellenwohnung wieder weitervermieten kann, obwohl er mir doch als Erben die Miete weiterhin in Rechnung stellt. Die völlig überhöhte Miete, wie ich Dir versichern kann. Meine Bibliothek hat ihren Bestand verdreifacht, leider aber nicht in den Regalen, sondern durch die unzähligen ungeöffneten Kisten und Papierbündel, die sich auf meinem Billardtisch stapeln. Es ist mir immer noch nicht ganz klar wie dieser Mann soviel Material in seinen engen vier Wänden anhäufen konnte. Ich sehe davon ab, ein Umzugsunternehmen zu engagieren, weil ich mich zwingen möchte, nur das Nötigste auf den Billardtisch (und wenn das so weitergeht, um diesen herum!) zu überführen, Du kennst ja meinen Drang zum horten.
Es freut mich zu hören, das Klein-Josephina ihre Unpässlichkeit hinter sich gelassen hat und nun wieder der wilde Derwisch ist, der sich in unsere Herzen getanzt hat. Auch wenn Elsa zur Zeit in New Mexico ihre ältere Schwester besucht, bin ich sicher, das nichts dagegenspricht, Eure Einladung zu Josephinas Geburtstag anzunehmen und mich auf die berüchtigte Schokoladentorte Deiner herzallerliebsten Hilde zu freuen. Tausend Grüße aus dem verregneten Maine,
Dein Arno
Liebster William,
Ich muß Dich dringend bitten, einzuschreiten, sollte Hilde ihre Warnung wahrmachen wollen, und Elsa das Rezept für die Schokoladentorte zu senden. Ich bin zu jung, um meinen Körperumfang mindestens zu verdoppeln.
In der Hinterlassenschaft meines Onkels habe ich eine merkwürdige Zeichnung gefunden, betitelt „La Cabra wie in der andalus. Höhle gesehen“ und mit der Jahresangabe 1878 versehen. Merkwürdig, ich wußte gar nicht das Henry bereits mit 16 in Europa gewesen ist. Noch dazu in Spanien? Oder ist es ein anderer H. der Familie, ich muß Mutter danach fragen. Die Zeichnung selbst ist von merkwürdiger Art, und ich bin nicht sicher, aber ich glaube sie stellt ein primitives Abbild der Jungfrau Maria dar. Ich habe eine Photographie der Zeichnung beigelegt, ich weiß ja, das Hilde sich für Heiligenbilder vergangener Zeiten interessiert.
Mit herzallerliebsten Grüßen, auch von Hilde, aus dem ausnahmsweise sonnigen Main,
Dein Arno
Lieber William,
die Ereignisse rund um das Bild tun mir sehr leid. Wie Du, bin ich verstört, warum eure Zugehfrau Conchita so extrem reagiert hat. Eine Schande, wo gutes Personal zu schwer zu finden ist. Vielleicht hat sie irgendwie Ähnlichkeit mit alten Mayagottheiten, von denen Conchita sicher als Mestize wusste? Warum stammt die Zeichnung dann nach Henry aus Andalusien? Ich habe meine Mutter gefragt, und auch wenn sie merkwürdig verschlossen war, etwas, was wie Du weißt, sonst gar nicht ihre Art ist, hat sie schließlich zugegeben, das er mit einem älteren Herren gereist ist. Ich muß sicherlich nicht sagen, warum Mutter dies nicht von vorneheraus zugegeben hat, und auch Dich würde ich um Verschwiegenheit bitten. Erklärt aber einiges.
Henry hat die Zeichnung übrigens in einem seiner Notizbücher erwähnt – ich werde versuchen das zugehörige Tagebuch zu finden, um vielleicht etwas Licht in das Dunkel zu bringen. Und wo wir schon davon sprachen, einige hingeworfene Randbemerkungen in seinen Notizen erscheinen plötzlich in anderem Licht. Wer hätte das geahnt? Onkel Henry…
Ich hoffe, das ihr wieder etwas Ruhe gefunden habt, nach dieser unangenehmen Geschichte, und grüße Dich und die Deinen aus Main, wieder regnerisch und kalt,
Dein Arno
William,
ich fürchte, das diese Zeichnung mehr birgt als die primitive Kunst eines Bergbauern. Henrys Andeutungen gingen auch in eine ganz andere Richtung, als ich spekuliert habe. Wenn auch nur die Hälfte von dem wahr ist, was mein Onkel in seinem Tagebuch beschreibt, dann ist Conchitas Reaktion in meinen Augen nicht die Tat einer hysterischen, halbwilden Frau in den Wechseljahren, sondern verständlich, ja, vielleicht sogar gerechtfertigt. Schlimmer noch, sie scheinen mir auf den Fersen zu sein. In Henrys Wohnung wurde eingebrochen, aber dies ist alles…
Der Rest des Briefes wurde abgerissen. Vier Briefe, gefunden in einem schlichten Ordner, im Nachlass der überraschend und tragisch verunglückten Familie des Dr. William Cornwall, Fort Worth, Texas. Die Antwortbriefe waren nicht vorhanden, Dr. Arno Franklin befindet sich zur Zeit in Begleitung seiner Frau auf einer transtlantischen Reise nach Sevilla, Spanien, und konnte zu den Vorfällen nicht befragt werden.
😉
Bis denn dann
Rorschachhamster